JOVAN DIVJAK - Der Retter von Sarajevo |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 20.07.2011 Der Serbe Jovan Divjak war Vizechef der bosnischen Armee und organisierte die Verteidigung der belagerten Hauptstadt. Nun sitzt er in Österreich fest - wegen eines serbischen Haftbefehls WIEN. Täglich streunt er durch die Stadt, flaniert entlang der Donau oder durch die weitläufige Parkanlage hinter dem Schloss Schönbrunn. Manchmal unternimmt er auch Ausflüge in den Wienerwald oder geht zum Heurigen in ein nah gelegenes Dorf. Jovan Divjak hat nichts zu tun. Er wartet. Seit über vier Monaten schon. Er wartet auf eine Entscheidung der österreichischen Justiz, ob er nach Serbien oder Bosnien ausgeliefert wird. Oder ob er seinen Pass zurückerhält und das Land wieder verlassen darf, in das er gar nicht einreisen wollte. Der ehemalige Vizekommandant der bosnischen Armee war auf der Durchreise nach Bologna, wo er vor Gymnasiasten einen Vortrag über die Kriegsverbrechen auf dem Balkan halten sollte, als er am 3. März auf dem Flughafen Wien-Schwechat festgenommen wurde - aufgrund eines Haftbefehls aus Serbien, das ihm Kriegsverbrechen zur Last legt. Nach fünf Tagen kam er gegen eine Kaution in Höhe von 500000 Euro auf freien Fuß, musste aber geloben, die Grenzen Österreichs nicht zu überschreiten. Der 74-jährige
Ex-General ist putzmunter. Zum Treffen in einem Hotel kommt er in Baggy-Jeans
und mit offenem Hemdkragen, Typ rüstiger Rentner. Schlohweißes Haar, hellwacher
Blick. Sein Französisch ist fließend, aber für alle Fälle hat er ein Wörterbuch
mitgebracht. Er wird es während des dreistündigen Gespräches ein einziges Mal
konsultieren. Seine missliche Lage nimmt Divjak recht gelassen hin. "Ich
bin unschuldig", sagt er, "und das Gericht weiß es. Mit meiner
Festnahme haben sie einen Fehler gemacht, und jetzt suchen sie halt nach einem
Weg, da wieder herauszukommen." Mörser aus dem
Museum Seit dem Ende des bosnischen Krieges, seit 1995, war Divjak in vielen Ländern unterwegs: in Frankreich, Schweden, Marokko, auch in Slowenien und Kroatien. In Frankreich, wo Divjak im Jahr 2001 den höchsten Orden der Ehrenlegion erhalten hat, appellierten vor zwei Wochen sechzig Intellektuelle, Politiker und Künstler - unter ihnen der Ex-Premier Michel Rocard und der Filmemacher Jean-Luc Godard - an den Präsidenten des Europäischen Parlaments, sich für den Mann einzusetzen, der "für den Frieden und ein multiethnisches Bosnien-Herzegowina" gekämpft habe. In Sarajevo
gingen nach der Festnahme Divjaks Tausende auf die Straße, um seine Freilassung
zu fordern. Für viele bosnische Muslime ist der Ex-General ein Held. Für die
Serben aber ist er ein Verräter. Denn Jovan Divjak ist Serbe und hat das
belagerte Sarajevo verteidigt - gegen die Serben, die die Stadt über drei Jahre
lang von den umliegenden Hügeln beschossen. "Ich habe
meine Stadt verteidigt", sagt Jovan Divjak, der in Belgrad geboren wurde
und seit 45 Jahren in Sarajevo lebt, "und ich habe immer für das
Zusammenleben von Muslimen, Kroaten und Serben gekämpft und gegen jene, die die
Völker trennen wollten." Militärisch hat Divjak die Schlacht um Sarajevo
gewonnen. Den Soldaten der bosnisch-serbischen Armee unter Ratko Mladic, dem
vor zwei Monaten in Serbien gefassten "Schlächter von Srebrenica",
ist es nie gelungen, die Stadt einzunehmen. Aber gewissermaßen hat Divjak doch verloren.
"Vor dem Krieg bestand die Bevölkerung Sarajevos zu rund 50 Prozent aus
Muslimen, zu 30 Prozent aus Serben und zu 20 Prozent aus Kroaten und
anderen", sagt er, "heute sind es über 90 Prozent Muslime und eine
winzige serbische Minderheit." Das multiethnische Sarajevo, das er liebte
und für das er kämpfte, gibt es nicht mehr. Mit Soldaten
kam Divjak schon in frühester Kindheit in Kontakt. Sein Vater kämpfte bei Titos
Partisanen gegen die Truppen der Wehrmacht. Als der kleine Jovan ihn einmal in
seinem Versteck in einem Weinberg besuchte, entwischte er nur knapp den
deutschen Soldaten. Doch ihn selbst zog es nicht zur Armee. Eigentlich wollte
Divjak Psychologie studieren. Aber das bescheidene Budget der Familie ließ ein
Universitätsstudium nicht zu, und so besuchte er auf Druck der Mutter hin 1956
die Kadettenschule, die nichts kostete. 1959 trat er in die Armee ein. Von 1966
bis 1984 dozierte er an der Militärakademie. Als Oberst verließ er die Armee
und wechselte zur Territorialverteidigung, die Tito unter dem Eindruck der
Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 geschaffen hatte. Sie existierte in
allen Gemeinden und sollte im Notfall das Gebiet bis zum Eintreffen der Armee
militärisch verteidigen. Divjak wurde Kommandant der Territorialverteidigung
der Region Sarajevo. Doch Ende 1991 hatte er einen Konflikt mit seinen
Vorgesetzten. Er wurde abgesetzt. Am 2. März 1992
erklärte Bosnien-Herzegowina seinen Austritt aus dem jugoslawischen
Staatsverband und seine Unabhängigkeit. Am 6. April schossen Heckenschützen aus
dem Hotel Holiday Inn, wo der Serbenführer Radovan Karadzic sein Hauptquartier
hatte, in eine Menge von über 50000 Menschen, die in Sarajevo für Frieden
demonstrierten. Zwei junge Frauen wurden getötet. Damit war der Krieg endgültig
auch in Sarajevo angekommen. Am 8. April verfügte Alija Izetbegovic den Neuaufbau der zusammengebrochenen Territorialverteidigung. Dem muslimischen Präsidenten Bosnien-Herzegowinas lag an der Aufrechterhaltung eines multiethnischen Staates. Und so wurde der Serbe Divjak Stellvertreter des muslimischen Armeechefs. Der dritte Mann war ein Kroate. Faktisch aber war es Divjak, der nun die Verteidigung der Stadt organisierte. Die Soldaten
der jugoslawischen Armee, die eine serbische geworden war, hatten bereits die
Hügel oberhalb Sarajevos besetzt und ihre schwere Artillerie in Stellung
gebracht. Die Stadt war belagert. "Wir hatten zu Beginn nur leichte Waffen
und nur einen einzigen Panzer, ein halbes Dutzend Granaten, sechs
Raketenwerfer, viertausend Gewehre und vier Maschinengewehre", schreibt
Divjak in seinem Buch "Sarajevo, mon amour", "die Mörser holten
wir aus dem Museum von Sarajevo." Fast täglich ging er selber an die Front
oberhalb der Stadt, was ihn bei seinen Truppen, von denen nur jeder Dritte eine
Waffe hatte, ungeheuer beliebt machte. Drei Jahre lang trotzten Divjaks Männer
den Soldaten Ratko Mladics, der Mitte Mai 1992 das Kommando über die Truppen
der bosnischen Serben übernahm. Rund 10000 Menschen, unter ihnen 1600 Kinder,
fielen der Belagerung Sarajevos zum Opfer. Divjak hat sich
oft mit Mladic getroffen, der sich nun wegen des Massakers von Srebrenica mit
über 8000 Toten vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag verantworten muss. Man
verhandelte am Flughafen von Sarajevo, wo Blauhelme der Vereinten Nationen
stationiert waren, über Waffenstillstände oder Lebensmitteltransporte in die
belagerte Stadt. "Immer, wenn wir ankamen", erinnert sich Divjak,
"zeigte Mladic mit dem Finger auf mich und schrie: ,Ich werde mit keiner
muslimischen Delegation verhandeln, der ein Verräter des serbischen Volkes
angehört!' Dann hat er uns befohlen, die Kapitulation Sarajevos zu
unterschreiben, was wir kategorisch ablehnten. Es war ein Spiel, ein Ritual.
Und wenn es absolviert war, konnten die Verhandlungen beginnen." Mladic
sei besessen gewesen von der Eroberung Sarajevos, sagt Divjak, und er habe
immer wieder angekündigt, auf einem weißen Pferd in die Stadt einzureiten. All dies ist
bald zwanzig Jahre her. Doch Jovan Divjak erinnert sich an jedes Detail. Und
auch die Ereignisse jenes Tages, an dem sich abspielte, was ihm einen
serbischen Haftbefehl und den Zwangsaufenthalt in Wien einbrockte, kann er wie
eine Filmspule abrollen. Es war am 3. Mai 1992. Seit einem Monat herrschte
Krieg . Unten in der Kaserne im Stadtzentrum von Sarajevo waren noch die von
General Milutin Kukanjac befehligten Soldaten der jugoslawischen Armee
stationiert, die für die serbische Seite kämpften. Am 2. Mai hatten die
serbischen Soldaten die Stadt von den Hügeln aus mit schwerer Artillerie
beschossen und waren danach in drei Kolonnen heruntermarschiert, Richtung
Stadtmitte. Bosnische Milizen belagerten die Kaserne und konnten gleichzeitig
die anrückenden Serben zurückschlagen. Deren Versuch, Sarajevo zu erobern, war
gescheitert. Am Abend nahmen serbische Soldaten am Flughafen Sarajevo Präsident
Izetbegovic fest, der von fehlgeschlagenen Friedensverhandlungen in Lissabon
zurückkam. Das Telefongespräch zwischen General Kukanjac, der in der von Muslimen belagerten Kaserne im Stadtzentrum blockiert war, und Präsident Izetbegovic, der von den Serben in der Kaserne von Lukovica, einem von ihnen kontrollierten Vorort Sarajevos, festgehalten wurde, strahlte das Fernsehen live aus. Die Uno vermittelte schließlich einen Austausch der beiden prominenten Gefangenen. Auch die Soldaten sollten die Stadtkaserne verlassen dürfen. Während des Austauschs, bei dem Divjak zugegen war, wurde der Konvoi der serbischen Soldaten in der Dobrovoljacka-Straße beschossen. Wie viele starben, ist umstritten. Divjak spricht von sieben, andere Quellen sprechen von 19 toten Soldaten, die von serbischer Seite genannte Zahl 42 dürfte aber viel zu hoch sein. Just diese
Toten lastet die serbische Staatsanwaltschaft nun Jovan Divjak an. Auch das
Jugoslawien-Tribunal in Den Haag hat bereits wegen der Schießerei in der
Dobrovoljacka-Straße ermittelt. Doch befand es 2003, es gebe keine
stichhaltigen Beweise, die für eine Schuld des Ex-Generals sprächen. In einem
von der BBC ausgestrahlten Film ist deutlich zu erkennen, wie Divjak auf einen
Panzerwagen klettert und wie besessen immer wieder schreit: "Ne
pucaj!" - "Schießt nicht!" - "Es war ein Verbrechen",
sagt er heute im Hotel in Wien, "aber es gab damals bewaffnete Gruppen und
Individuen, die wir nicht unter Kontrolle hatten." Zweifellos hat auch die
bosnische Armee Kriegsverbrechen begangen, und Divjak, ihr ehemaliger
Vizekommandant, ist einer der ersten, die das öffentlich gesagt haben. Eine
Auslieferung Divjaks an Serbien sei "undenkbar", sagte drei Tage nach
seiner Festnahme Österreichs Außenminister Michael Spindelegger (ÖVP).
Inzwischen hat auch Bosnien-Herzegowina einen Auslieferungsantrag gestellt -
offensichtlich, um Divjak aus der Patsche zu helfen. "Nach
österreichischem Recht", sagt er, "müsste ich wohl an das Land
ausgeliefert werden, in welchem die angeblichen Verbrechen begangen wurden,
also nach Bosnien." Das zuständige Landesgericht Korneuburg bei Wien
wollte vor einer Entscheidung erst ein Justizabkommen zwischen Serbien und
Bosnien-Herzegowina abwarten, das geplatzt ist. Vorgestern gab es auf Anfrage
bekannt, man warte noch auf die angeforderte "Staatendokumentation des
Bundesasylamts", aus der hervorgehe, ob Jovan Divjak gegebenenfalls in
Serbien ein faires Verfahren zu erwarten hätte. Bislang ist allerdings
nichts bekanntgeworden, was auf die Geschehnisse in der Dobrovojacka-Straße ein
neues Licht werfen und auf eine Schuld Divjaks an Kriegsverbrechen hindeuten
könnte. Und so rätselt man in Wien darüber, weshalb der Ex-General viereinhalb
Monate nach seiner Festnahme das Land noch immer nicht verlassen darf. Will man
es sich, aus Rücksichtnahme auf die 80000 Personen starke serbische Gemeinde in
Wien, mit Serbien nicht verderben? Hat man Angst, der rechtsradikalen FPÖ in
die Hände zu spielen, deren Parteichef Heinz-Christian Strache seit geraumer
Zeit dezidiert proserbische Positionen einnimmt, um Wählerstimmen zu ködern? Es
ist ein Stochern im Nebel. Stiftung für
die Opfer des Krieges Divjak nimmt
das Ganze erstaunlich gelassen. Am meisten ärgert ihn, dass er in Sarajevo
fehlt. Dort hat der frühere General noch während des Krieges die Stiftung
"Bildung baut Bosnien-Herzegowina" gegründet. Sie hat seither über
3700 Kindern Stipendien gegeben. Sie verteilt Schulbücher an bedürftige
Familien und organisiert Ferienlager. Vorrangig hilft sie Kindern, die durch
den Krieg Halb- oder Vollwaisen wurden, sowie behinderten Jugendlichen und
Angehörigen der Roma-Minderheit. "Die Gründung der Stiftung", sagt
der Ex-General, dem man glaubt, dass ihm der Krieg zuwider ist, "war die
dritte wesentliche Meilenstein in meinem Leben - nach der Heirat und nach der
Entscheidung, als Vizechef der neuen Armee Sarajevo zu verteidigen." Etwas hat der
Wiener Zwangsaufenthalt dem Serben, der bei den bosnischen Muslimen als
"Retter von Sarajevo" verehrt wird, immerhin gebracht. Jovan Divjak
hat sich mit den neuen Kommunikationstechnologien angefreundet. Er hat nun
gelernt, SMS zu schreiben, E-Mails zu schicken und im Internet zu surfen. So
hat er mit seinen beiden Söhnen regelmäßig Kontakt. Der eine lebt in
Kalifornien, der andere in London. Der eine ist mit einer Kroatin, der andere
mit einer Muslimin liiert. "Und mit Vera in Sarajevo, mit der ich seit 54
Jahren verheiratet bin", sagt der Ex-General zum Abschied, "skype ich
nun täglich." |