Der flammende Protest des Hamid Kanouni |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 28.08.2011
BERKANE. Die wenigen Straßencafés sind bis auf den letzten Stuhl besetzt. Doch es herrscht eine gespenstische Stille. Niemand redet. Niemand trinkt Kaffee oder den hier üblichen mit Minze versetzten Schwarztee, nicht einmal Wasser. Wie K.O.-geschlagene Boxer liegen die Männer in den billigen Plastikstühlen, die Baseballmütze tief in die Stirn gezogen oder ein Tuch um den Kopf gewickelt. Man bewegt sich, wenn es denn sein muss, nur langsam. Der Körper muss Energie sparen. Es ist fünf Uhr abends, noch immer sind es 31 Grad im Schatten. Frauen sieht man kaum, im Café schon gar nicht. Nur ab und zu huscht eine verhüllte Gestalt übers Pflaster, mit Plastiktüten voll Brot, Gemüse und Früchten, für den Iftar, das allabendliche Fastenbrechen. Der Ramadan wird in Berkane, einer Stadt mit 80000 Einwohnern im Nordosten Marokkos unweit der Grenze zu Algerien, strikt eingehalten, in der Öffentlichkeit jedenfalls. Nach Sonnenuntergang wird tüchtig nachgeholt, was man
sich tagsüber versagt hat. Die Fleischer stellen Lammkeulen und
Ziegenköpfe aus, die Bäcker können sich der anstürmenden Kundschaft kaum
erwehren. Auf Holztischen und Handkarren locken Berge von Melonen,
Klementinen, Feigen, Nüssen. Auf dem großen überdachten Markt herrscht
emsiges Treiben. Da schwenken plötzlich einige Jugendliche schwarze
Fahnen der "Bewegung 20. Februar". Sie schreien rhythmisch Parolen,
tanzen auf und ab. Sie wollen Aufklärung, sie fordern eine unabhängige
Untersuchungskommission. Denn Hamid Kanouni ist tot, er hat sich vor
zwei Wochen vor der Polizeistation von Berkane mit Benzin übergossen und
angezündet. Alles erinnert an Tunesien, an Mohamed Bouazizi. Der
arbeitslose junge Mann, der sich als ambulanter Gemüsehändler durchs
Leben schlug, hatte sich im Dezember in der tunesischen Kleinstadt Sidi
Bouzid angezündet und damit die Revolution ausgelöst, die schon einen
Monat später in der Flucht des Langzeitdiktators Ben Ali endete. Das
Bild des brennenden Bouazizi wurde hunderttausendfach über Facebook
versendet, millionenfach auf Youtube abgerufen. Auch hier haben es alle
gesehen. Und wie die Jasmin-Revolution nach Ägypten geschwappt ist,
haben ihre Wellen auch Marokko erreicht. Am 20. Februar kam es - über
Facebook und Twitter organisiert - in Dutzenden Städten des Königreichs
zu Demonstrationen gegen Korruption und die Arroganz der Macht, für
Arbeit und ein Leben in Würde. Auch in Berkane hat sich danach
die "Bewegung 20. Februar" formiert. Ihr Sprecher ist Abdelouahab
Boujellab, 40 Jahre alt und mit einem Gebiss, das darauf schließen
lässt, dass er sich keinen Zahnarzt leisten kann. Wie der Tunesier, der
die Revolution ausgelöst hat, ist auch er ambulanter Händler. Auch er
verkauft Gemüse und Früchte - seit 1992, seit er nicht mehr als
Animateur in Kinderferienlagern arbeitet und arbeitslos wurde. Jeden
Morgen kauft er auf dem Großmarkt ein, liefert die Ware einigen
Stammkunden frei Haus, baut dann seinen Holztisch im Stadtzentrum auf
und am Abend wieder ab. Sein Arbeitstag dauert in der Regel 14 Stunden,
von sechs Uhr früh bis acht Uhr spät. 150Dirham, umgerechnet 14Euro,
verdient er im Schnitt pro Tag. Einen Euro pro Stunde. Während des
Ramadan sind es deutlich mehr, weil die Menschen zwar tagsüber fasten,
nachts aber umso mehr essen - oft bis drei Uhr morgens. "Früher nahmen
die Leute im Ramadan ab", sagt Abdelouahab, "heute nehmen sie zu." Auch
Hamid Kanouni, der sich am 7. August in Berkane mit Benzin übergossen
und dann selbst angezündet hat, war ambulanter Händler. Er ist in der
alten Königsstadt Fès aufgewachsen, begann dort sein Studium. Aber dann
starb sein Vater, und als ältester Sohn musste er für Mutter, Bruder,
Schwester und Großmutter aufkommen. So zog er in den Norden, wo es, wie
es hieß, leichter war, Geld zu verdienen. In Berkane fand er Arbeit bei
Fouazi, Besitzerin einer Bäckerei am zentralen Boulevard Mohammed V.,
benannt nach dem Großvater des heutigen Königs Mohammed VI. Doch noch
vor Beginn des Ramadan wurde Hamid entlassen. Wann genau, ist
umstritten, wie so vieles in dieser tragischen Geschichte. Was
sollte Hamid tun ohne Arbeit? "Er kaufte Brot bei einer Großbäckerei und
stellte einen Holztisch auf - fünf Meter vom Laden Fouazis entfernt",
erzählt Ahmidane Abdi, Gymnasiallehrer für Geographie und Geschichte
sowie Präsident der lokalen Sektion der marokkanischen
Menschenrechtsvereinigung. "Eines Tages rief die Bäckerin die Polizei."
Auf dem Kommissariat sei Hamid wohl misshandelt worden. Jedenfalls habe
Faisal, ein Freund, gehört, wie der brennende Brotverkäufer sich über
die "Hogra" empörte. Das arabische Wort bedeutet so viel wie Demütigung
oder Erniedrigung - durch Schläge, Spucke, Beschimpfung. Folge der Hogra
ist Schmach, zugefügt von jemandem, gegen den man sich nicht wehren
kann. Der Menschenrechtsaktivist glaubt, dass Hamid sich aus Scham und
als Protest angezündet hat. Erst sei er weggelaufen, dann
zurückgekommen, um sich just vor dem Polizeikommissariat in Brand zu
stecken. Das war Sonntagabend. Seine schweren Verbrennungen konnte
man in Berkane nicht behandeln. Noch in der Nacht wurde er, begleitet
von seinem Freund Hicham, in eine Klinik im 650 Kilometer entfernten
Casablanca gefahren. Dort starb er am Dienstagmorgen. Weder Faisal noch
Hicham seien bereit, mit Journalisten zu sprechen, sagt jemand, der
beide gut kennt. Auch Fouazi, die Bäckereibesitzerin, will nicht reden.
Und der Fleischer neben der Bäckerei, der Feigenverkäufer vor der
Fleischerei, der Schuhputzer neben dem Feigenverkäufer, sie alle wollen
auch nicht reden. Sie alle müssen Hamid gekannt oder zumindest den
Konflikt zwischen Fouazi und ihm mitgekriegt haben. Sie wollen in Ruhe
gelassen werden, keinen Ärger riskieren. Es ist doch ohnehin nichts mehr
zu machen. Hamid ist tot. Er wurde 27 Jahre alt. War es wirklich der
Protest eines Verzweifelten, wie der Menschenrechtler Ahmidane Abdi
nahelegt? Bei der Staatsanwaltschaft hört man eine andere
Version: Fouazi nahm Hamid, der vor ihrer Bäckerei seinen Holztisch
aufgestellt hatte, 250 Brötchen weg. Die beiden kamen zur Polizei,
fanden eine einvernehmliche Lösung ihres Zwists. Danach ging Hamid weg,
kam zurück, übergoss sich vor dem Kommissariat mit fünf Litern Benzin.
Er wollte nur drohen, setzte sich versehentlich in Brand, schrie um
Hilfe und rannte ins Gebäude. Ein Polizist riss einen Vorhang herunter
und löschte das Feuer. "Es sind vorläufige Ergebnisse", sagt der
zuständige Vizestaatsanwalt, "wir ermitteln weiter." Die "Bewegung
20.Februar" traut der Staatsanwaltschaft nicht. Sie hat eine eigene
Kommission zur Untersuchung von Hamids Tod eingerichtet. Mohammed Salhi,
der ihr angehört, fasst zusammen: Taufik, ein Arbeiter der
Bäckereibesitzerin, zettelte mit Hamid Streit an. Die Bäckerin rief die
Polizei, die beiden Streithähne wurden zum Kommissariat gebracht. Dort
versöhnten sie sich. Bei der Rückkehr zum Markt fand Hamid seinen
umgestürzten Tisch vor. Sein behinderter Freund Jawad, der den Tisch
bewachen wollte, wurde in der Bäckerei verprügelt und festgehalten.
Hamid ging zum Gericht, um beim Staatsanwalt Beschwerde einzulegen, fand
die Tür verschlossen, ging verzweifelt zum Kommissariat, wurde dort
beschimpft, übergoss sich mit Benzin und steckte sich in Brand. "Unter
den ambulanten Händlern in der Umgebung der Bäckerei galt Hamid als
Bonvivant", sagt Mohammed Salhi, "von Depressionen keine Spur." Aber wer
weiß schon, was Hamid Kanouni umtrieb, wer er wirklich war? Über sein
Leben weiß man wenig, und über seinen Tod gibt es täglich neue
Versionen. Der "Bewegung 20.Februar" habe Hamid nicht angehört,
sagt deren Sprecher Abdelouahab, aber noch am späten Sonntagabend habe
man vor der Präfektur, dem Sitz der Provinzregierung, ein Sit-in
veranstaltet. Zum Treffen im Hinterzimmer eines Restaurants hat er einen
hochgewachsenen jungen Mann mitgebracht. Es ist Ahmed Guilli, der die
arbeitslosen Akademiker von Berkane organisiert. Der Jurist und
Politologe zieht das Hemd hoch und zeigt die Striemen von Schlägen. Auch
die Prellungen am Kopf sind noch nicht abgeschwollen. Er sei bei der
Auflösung des Sit-in von der Polizei schrecklich verprügelt worden,
berichtet er, danach habe man ihn in ein Auto gestoßen und gegen
Mitternacht drei Kilometer außerhalb der Stadt ausgesetzt. Seit seinem
Studienabschluss vor einem Jahr ist Ahmed arbeitslos. Auf fünf
öffentlich ausgeschriebene Stellen habe er sich beworben - "natürlich
vergeblich, denn Arbeitsplätze werden hier verkauft und gekauft." Hogra
- Erniedrigung - habe es früher auch und noch öfter gegeben, sagt
kopfschüttelnd Mustafa, der alte Zeitungsverkäufer, aber deshalb habe
man sich doch nicht gleich angezündet. Der "Bewegung 20. Februar"
misstraut er zutiefst. Die wolle die Selbstverbrennung von Hamid Kanouni
nur ausschlachten, um über die eigene Schwäche hinwegzutäuschen. Sie
sei frustriert über ihre Machtlosigkeit. Sie wolle in die Fußstapfen der
tunesischen Revolutionäre treten. Doch Marokko ist nicht
Tunesien. Zwar haben beide Länder die gleichen Probleme: grassierende
Arbeitslosigkeit vor allem auch unter Akademikern, Korruption, eine
Jugend, die keine Zukunft sieht. Und Mohammed VI. hat nicht weniger
Macht und Reichtum, als sie Ben Ali hatte. Aber er ist ein König und
kein Diktator. Er hat das Land nach dem Tod seines Vaters Hassan II.
politisch geöffnet. Vor allem ist er auch religiöses Oberhaupt, Emir der
Gläubigen. Er ist beim Volk, quer durch alle Schichten, beliebt. M6,
wie ihn die Marokkaner abkürzen, hat auf den Protest der Straße schnell
reagiert, er konnte der "Bewegung 20.Februar" den Wind aus den Segeln
nehmen. Er erhöhte die Gehälter im öffentlichen Dienst und den
Mindestlohn. Am 1.Juli ließ er per Plebiszit eine Verfassungsreform
verabschieden. Er gab ein wenig Macht ab: Künftig darf die stärkste
Partei den Regierungschef stellen, der kann die Gouverneure ernennen.
Letztlich aber hat der Monarch weiterhin das Sagen. Die "Bewegung
20.Februar" hat die Verfassungsreform abgelehnt, die - bei einer
Wahlbeteiligung von 73 Prozent - offiziell 98 Prozent der Marokkaner
guthießen. "Die Reform, für die in allen Moscheen des Landes die
staatlich bezahlten Imame warben, wurde von einer königlichen Kommission
ausgearbeitet", kritisiert Sprecher Abdelouahab, "die Zivilgesellschaft
wurde nicht einbezogen. Wir verlangen eine Verfassunggebende
Versammlung. Wir wollen nicht ein bisschen Demokratie. Wir wollen
Demokratie." Von den auf November vorgezogenen Neuwahlen erwartet er
keine Veränderung. Die Monarchie an sich stellt die "Bewegung 20.
Februar" nicht infrage, aber sie möchte eine konstitutionelle,
parlamentarische Monarchie nach spanischem Vorbild. Davon ist Marokko
weit entfernt. Radikaler ist die nicht legale, aber doch
tolerierte "Vereinigung Gerechtigkeit und Spiritualität" des greisen
Scheichs Abdessalam Yassine. Sie ist vermutlich die stärkste
gesellschaftliche Kraft Marokkos und wegen ihres sozialen Engagements
bei den Armen populär. Wie Mohammed VI. behauptet auch der Scheich, vom
Propheten abzustammen. Er stellt die Autorität des Königs offen in
Frage, spricht mitunter gar von einer Republik und meint eine islamische
Republik. Seine Vereinigung unterstützt die "Bewegung 20.Februar". Sie
hat Hamid Kanouni zum Märtyrer erklärt. Nicht jeder
Bärtige ist Islamist Im Demonstrationszug, der sich unter
den schwarzen Fahnen am Markt formiert hat, marschieren auch Bärtige in
der Dschellaba, dem langen Gewand der Männer. Die Frauen bilden einen
Block für sich. Das muss noch nichts heißen. Berkane ist eine tief
konservative Ecke Marokkos. Doch nicht jeder Bartträger ist islamischer
Fundamentalist. Und in der sommerlichen Hitze ist die Dschellaba
bequemer als die Hose. Aber Skeptiker warnen vor einer Unterwanderung
der Protestbewegung durch Islamisten. Der Zug bewegt sich den
Boulevard Mohammed V. hoch. Weit und breit kein einziger Polizist,
selbst den Verkehr regeln die Demonstranten selbst. Sie stoppen um
Mitternacht Autos, um in der belebten Innenstadt, wo nach dem
Fastenbrechen überall Freunde und Familien zusammensitzen, die Straße
für den Protest freizugeben. Kein nervöses Hupen. Keine Aggression.
Viele zeigen Verständnis für die Demonstranten. Die meisten aber
scheinen sich einfach zu wundern, dass in ihrer Stadt so etwas möglich
ist: dass junge Menschen von den allmächtigen Behörden, vor denen man
sich zu ducken gewohnt ist, öffentlich Rechenschaft fordern - über den
Tod eines armen Schluckers, des Straßenhändlers Hamid Kanouni. |