Rebellische Untertanen |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 24.11.2011 In Marokko wird
am Freitag gewählt, die Islamisten könnten siegen. Die Demokratiebewegung ruft
zum Boykott auf - und wird dabei von Islamisten unterstützt. Wenn er lacht, und er lacht oft, verzerrt sich für einen kurzen Augenblick die rechte Gesichtshälfte. Zur Begrüßung klappt Hamza Mahfoud sein Handy auf und zeigt ein Foto: Fünf Polizisten dreschen auf einen jungen Mann ein. „Das bin ich“, sagt er und lacht schon wieder, „zwei Tage lag ich danach im Koma, seither spüre ich auf der rechten Wange nichts mehr.“ Mahfoud, 25, gehört zum Führungszirkel der „Bewegung 20. Februar“, die nach der Jasmin-Revolution in Tunesien und der Revolte auf dem Tahrir-Platz in Kairo auch in Marokko für einen arabischen Frühling sorgte. Jede Woche bekommt Mahfoud zwei Schreiben der Staatsanwaltschaft, in denen ihm förmlich untersagt wird, an Demonstrationen teilzunehmen. Zweimal pro Woche demonstriert der diplomierte Philosoph, der Kant, Hegel und Nietzsche studiert hat, trotzdem: zuletzt am Samstag für die Freilassung von Mouad Belghouat und am Sonntag für den Boykott der Wahlen. Mouad Belghouat
alias el-Haket (der Empörte) ist ein Rapper, der schon seit dem 9. September
ohne Anklage hinter Gittern sitzt. Die Wände seines engen, nun verwaisten
Zimmers in der Wohnung seiner Eltern in Oukacha, einem heruntergekommenen
Viertel an der Peripherie der marokkanischen Hafenstadt Casablanca, sind voll
gekritzelt mit Solidaritätsadressen seiner Freunde. „Solange ich lebe“,
dichtete el-Haket, „kann der König nicht hoffen, dass eines Tages sein Sohn das
Königreich erben wird.“ Das ist in Marokko Majestätsbeleidigung. Aber in
Oukacha kennen schon die Halbwüchsigen den frechen Sprechgesang des Rappers.
Sie summen ihn auf der Demonstration, während Mahfoud auf die Schultern eines
Mannes klettert, sich das Mikrofon reichen lässt, Parolen schreit, die von den
tausend Menschen wiederholt werden, die Samstagnacht bei strömendem Regen durch
Casablanca ziehen. Der König ist
populär König Mohammed
VI. hat im arabischen Frühling schnell reagiert. Am 20. Februar kam es in
Marokko zu ersten Massendemonstration für Demokratie. Am 9. März kündigte der
Monarch in einer öffentlichen Rede eine Verfassungsreform an, die Anfang Juli
plebiszitär verabschiedet wurde. Doch es war keine Reform, nur ein Reförmchen.
Der König ist weiter allmächtig. Er bestimmt den Regierungschef, der immerhin künftig
der stärksten Parlamentsfraktion angehören muss. Er sitzt dem Hohen Rat der
Justiz vor und dem Ministerrat, er ernennt die Gouverneure. Er ist
Oberkommandierender der Armee, und über eine Holding kontrolliert er auch mehr
als die Hälfte der Wirtschaft. Er herrscht gleich dreifach über die Marokkaner:
als Staatschef über die Bürger, als König über Untertanen und als „Emir der
Gläubigen“ über die Muslime. Mahfoud hält
die Reform für Blendwerk. Seine „Bewegung 20. Februar“ fordert eine
parlamentarische Monarchie nach spanischem Muster. Einige möchten lieber gleich
eine Republik. Aber in Marokko ist der König durchaus populär, zudem macht sich
strafbar, wer öffentlich für die Abschaffung der Monarchie eintritt. Strafbar
macht sich auch, wer öffentlich zum Boykott der Wahl an diesem Freitag aufruft.
Mahfoud und Zehntausende in ganz Marokko sind trotzdem jeden Sonntag auf die
Straße gegangen und forderten dazu auf, der Wahl fernzubleiben, weil sie nur
ein undemokratisches Herrschaftssystem festige. Manchmal setzt das Regime gegen
die Demonstranten Baltajias ein, bezahlte Schlägerbanden, oft in den untersten
Gesellschaftsschichten rekrutiert. Meistens aber lässt es die Bewegung einfach
gewähren und hofft, dass sie sich totläuft. Abdelilah
Benkirane empfängt in Rabat, der Hauptstadt. Er wirkt, vielleicht wegen seiner
Leibesfülle, wie ein Patriarch alten Stils, herzlich und doch unduldsam.
„Schießen Sie los, Deutscher“, muntert er, gut gelaunt, den Besucher zu Fragen
auf. Vor der „Bewegung 20. Februar“ hat er großen Respekt. Sie habe es
geschafft, eine Verfassungsreform zu erzwingen. Aber ihr Ziel einer
parlamentarischen Monarchie teilt er nicht. Benkirane ist Chef der
islamistischen PJD. Sie könnte die Wahlen gewinnen. Doch die
Aufregung über die Perspektive eines islamistischen Regierungschefs hält sich
in Marokko in Grenzen. Die PJD hat durchaus fundamentalistische Züge, ist aber
eine gemäßigte Partei und schon seit über einem Jahrzehnt ins politische System
eingebunden. Wo sie auf lokaler Ebene regiert, wird ihr Pragmatismus
bescheinigt. Vor allem aber ist sie, genau wie alle anderen Parteien,
schrankenlos loyal zum König, ohne dessen Segen kein Gesetz rechtskräftig wird.
Man kann Benkirane kein kritisches Wörtchen über den Monarchen entlocken. Sollte die PJD
nun doch nicht stärkste Partei werden und doch nicht den Ministerpräsidenten
stellen, so ist das möglicherweise einem 83 Jahre alten Mann zu verdanken, der
sich in der Öffentlichkeit nie zeigt: Scheich Abdessalam Yassine. Seine
islamistische Bewegung Al Adl Wal Ihsan (Gerechtigkeit und Spiritualität), die
sufistische Mystik und Politik verbindet, ist in der Gesellschaft stärker
verwurzelt als jede Partei. Sie hilft in Armenvierteln, wo der Staat versagt,
mit Nahrung, Medikamenten und Ratschlag. Früher haben wohl viele Anhänger der
Bewegung, die keinen legalen Status hat und sich um Wahlen nie kümmerte, die
islamistische PJD gewählt. Nun aber ruft Al Adl Wal Ihsan zum Boykott. Offizieller
Sprecher ist Fath Allah Arsalan. Er hockt in seiner Dschellaba, dem
traditionellen Männergewand, auf einem Kissen und serviert Tee. An der Wand
über ihm hängt, eingerahmt, eine Koransure. Der gelernte
Literaturwissenschaftler hat eine sanfte Stimme. „Schon bevor es die PJD gab“,
sagt er, „wollten wir eine Partei gründen. Aber man ließ uns nicht zu, weil wir
uns weigerten, uns zu unterwerfen.“ Der König verlangte, dass der Scheich ihn
als Emir der Gläubigen anerkennt. Schließlich ist Mohammed VI. ein Scherif, ein
direkter Nachkomme Mohammeds, des Propheten. Das aber behauptet der Scheich von
sich auch. Ob Marokko eine Monarchie bleibe oder eine Republik werde, sei unwichtig, sagt Arsalan, die Stimme des Scheichs. Nicht die Form zähle, sondern das Ziel, das man anstrebt. Der Wille des Volkes sei wichtiger als der Wille des Königs. Deshalb auch unterstützt Al Adl Wal Ihsan, deren Mitgliederzahl auf 100.000 geschätzt wird, die „Bewegung 20. Februar“, die Demokratie will. So zogen am
Sonntag durch die Innenstadt Casablancas etwa zehntausend Menschen, die zum
Wahlboykott aufriefen. Angeführt wurden sie von Hamza Mahfoud und seinen
Freunden. Aber viele vermutlich die Mehrheit der Demonstranten trugen
Kopftücher oder Bärte.
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